Gestern trat in Australien das weltweit erste umfassende Social-Media-Verbot für Minderjährige in Kraft. Das „Online Safety Amendment (Social Media Minimum Age) Bill 2024“ verpflichtet Plattformen wie TikTok, Instagram, X und Facebook dazu, „angemessene Schritte“ zu unternehmen, um Kinder unter 16 Jahren vom Besitz eines Accounts abzuhalten. Bei Nichteinhaltung drohen den Betreibern empfindliche zivilrechtliche Strafen von bis zu 49,5 Millionen Australischen Dollar. Premierminister Anthony Albanese lobt die Maßnahme als Rückeroberung der Kontrolle von Tech-Unternehmen und als Verteidigung des Rechts der Kinder, „Kinder sein zu dürfen“, was den Eltern angeblich „mehr Seelenfrieden“ verschaffe.

Doch dies ist lediglich die selbstgefällige Fassade einer Politik, die das eigentliche Problem ignoriert. Das langgeplante und längst beschlossene Gesetz gilt jetzt also – Zeit für einen tiefen Blick in diesen Placebo-Aktivismus.

Vor einiger Zeit sprachen wir über das Thema bereits im Podcast. Hört gerne mal rein in diese Folge der Casa Casi!

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Die Illusion von Kontrolle

Australien macht Ernst: Jugendliche unter 16 sollen keinen Zugang mehr zu Social Media haben. Die Regierung verkauft das als Jugendschutz. In Wahrheit ist es ein Realexperiment, das schon jetzt gescheitert ist. Da Australien als Ort des Experiments herhalten muss, sei mir das offensichtliche Wortspiel erlaubt, dass dieses Gesetz wie ein Bumerang auf die Regierung zurückkommen könnte. Davon ab ist das nichts, was Australien exklusiv hat: Auch Griechenland liebt diese Idee!

Die Bitterkeit darüber, wie einfach sich die Politik in der Öffentlichkeit mit diesem angeblichen „Schutz“ brüstet, während die Realität der Kinder ignoriert wird, ist kaum zu überbieten und macht mich wütend. Denn dieses Gesetz kämpft gegen etwas, das längst Alltag ist: Jugendliche, die sich technisch besser auskennen als jede Kontrollbehörde. Wer glaubt, man könne TikTok, Snapchat oder Instagram per Altersprüfung aus dem Leben eines Teenagers verbannen, hat das Internet entweder nie verstanden oder seit 2008 nicht mehr benutzt.

Die Kids sind zu clever!

Die existierende Altersbeschränkung von 13 Jahren (die auf US-Vorgaben basiert) konnte bereits leicht umgangen werden. Warum sollte das nun anders sein? VPNs? Eine Sache von zwei Klicks. Zweitaccounts? Längst eingerichtet. Familien-Apple-IDs? Ein einziger blinder Fleck. Und wer sich wirklich auskennt, wechselt ohnedies zu Discord, Telegram oder Signal.

Die alternativen Apps, die jetzt in den App-Store-Charts nach oben schnellen, heißen Yope, eine recht unbekannte Foto-Sharing-App, Lemon8 (ein Instagram-Klon vom TikTok-Unternehmen Bytedance) oder Coverstar, das sich selbst als sichere Alternative zu TikTok für 9-bis-16-Jährige bezeichnet. Ersatz für Snapchat, Instagram und TikTok scheint also längst gefunden.

Australische Eltern berichten zudem längst darüber, dass ihre Kinder sich Schnurrbärte und Falten ins Gesicht malen, um die Altersverifizierung auszutricksen. Mädchen nutzen falsche Wimpern und übertrieben starkes Make-up, um älter zu wirken. Manchmal reicht es einfach schon, sein eigenes Geburtsdatum zu ändern.

Die Probleme sind nicht weg, sie werden lediglich unsichtbar

Das Problem ist aber gar nicht die Umgehung – die ist erwartbar. Das eigentliche Risiko steckt woanders: Verbote verschieben problematische Inhalte nicht aus der Welt, sondern aus der Öffentlichkeit. Gewaltvideos verschwinden nicht. Sie wandern nur aus TikTok-For-You-Pages in WhatsApp-Gruppen, in private Clouds oder in geschlossene Discord-Server.

Genau das ist die Katastrophe dieses Gesetzes: Dienste wie Messaging-Apps und Online-Gaming-Plattformen sind im ersten Entwurf von der Definition der „Age-Restricted Social Media Platforms“. Wenn Jugendliche von regulierten Plattformen verdrängt werden, weichen sie auf privatere Kanäle wie WhatsApp, Telegram-Kanälen oder gar auf dunkle Ecken des Webs wie 4chan aus. Dort, in verschlüsselten Gruppen, wo keine Plattform-Algorithmen filtern und keine Elternkontrollen greifen können, wird es wesentlich schwieriger, schlechte Akteure zu erkennen und einzugreifen.

Der eSafety Commissioner als Teil der zuständigen Behörde in Australien selbst hat Bedenken geäußert, dass dieser restriktive Ansatz junge Menschen zu „weniger regulierten, Nicht-Mainstream-Diensten migrieren“ lassen könnte und deren Zugang zu kritischer Unterstützung einschränken würde.

Die eigentlichen Verlierer und die bequeme Politik

Australien versucht damit meines Erachtens, ein digitales Grundbedürfnis wegzuregulieren: Anschluss, Zugehörigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Unterhaltung – oder einfach die ganz banale Frage: „Wo sind die anderen gerade?“ Teenager suchen Social Media nicht wegen der App. Niemand ist wegen TikTok bei TikTok! Sie suchen schlicht den Ort, an dem ihr soziales Leben stattfindet.

Die Leidtragenden sind diejenigen, für die diese Plattformen tatsächlich einen Mehrwert bieten. Der 15-jährige Ezra Sholl, der nach einer Krebserkrankung gelähmt ist, sagte, Instagram und Snapchat seien für ihn ein „Fenster in die Welt da draußen“ und eine Möglichkeit, seine Freunde an seinem Leben teilhaben zu lassen.

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Die Regierung bestraft nun Kinder wie Ezra, die die Plattformen positiv nutzen, anstatt die eigentlichen Probleme der schädlichen Inhalte zu lösen. Die Risiken und Vorteile der Social-Media-Nutzung sind individualisiert; ein pauschales Verbot ist einfach nicht die vorteilhafteste Lösung.

Die Plattformen kommen glimpflich weg

Gleichzeitig kommen die Betreiber der Plattformen mit einem blauen Auge davon. Sie müssen „angemessene Schritte“ unternehmen, wobei die Ministerin vorschlägt, sie könnten ja die gleichen Kapazitäten nutzen, die sie bereits verwenden, um für politische Parteien demografische Daten zu identifizieren (z. B. Frauen eines bestimmten Alters in bestimmten Postleitzahlen). Das Ziel des Gesetzes, den Tech-Giganten die Verantwortung aufzuerlegen, ist sogar goldrichtig. Doch die Wahl des Mittels, das die Kinder lediglich in den unsichtbaren Raum verlagert, beweist, dass es nicht darum geht, die Kinder zu schützen, sondern sie unkompliziert aus den Augen zu bekommen.

Verbote sind leicht. Verantwortung hingegen ist schwer. Australien hat sich für den leichten Weg entschieden – und die schwierigen Probleme damit nur tiefer ins Netz gedrückt. Statt auf digitale Sorgfaltspflicht und Bildung zu setzen, schafft die Regierung eine gefährliche Illusion von Sicherheit, die Eltern beruhigt, aber die Kinder isoliert und ungeschützt lässt.

Bevor man jetzt in anderen Ländern wie Deutschland auf die dumme Idee kommt, dieses australische Gesetz zu feiern und dem Land nachzueifern, hoffe ich inständig, dass dieser Plan noch einmal gründlich durchdacht wird. Den Kids ist nicht geholfen, wenn man sie teils in die Schmuddelecke des Internets verbannt und teils von der Teilhabe abschneidet. Lasst sie Medienkompetenz pauken! Kleiner Tipp: So ein Schuss Medienkompetenz würde übrigens auch uns Erwachsenen nicht schaden. Dann müssten wir uns nämlich vielleicht nicht mit Gesetzen wie diesem herumärgern!