Jede Geschichte braucht einen Helden. In dieser Story ist es vielleicht eher ein Antiheld, und sein Name ist Ben. Bens Leben war unspektakulär, und nicht immer ganz einfach. Er war der, den man damals in der Schule als letzte Person in sein Team wählte. Und er ist der, auf dessen Kosten im Büro die meisten Witze gemacht werden. Die Leute waren nicht wirklich bösartig zu ihm, aber er gehörte irgendwie nie so recht dazu.
Wenn er mal wieder für die ganze Abteilung Donuts holte und sich wieder einmal niemand bedankte, stellte er es wieder fest: Er ist einfach irgendwie unsichtbar. Die Leute stören sich nicht an ihm – sie nehmen ihn schlicht nicht wahr.
In seiner eigenen Welt
Weil das Leben so ohne Höhepunkte an ihm vorbeilief, flüchtete er sich in seine Liebe zur Musik und in seine Fantasie. In seiner eigenen Welt konnte er IHRE Musik hören. Sie war seine absolute Lieblingssängerin. Hörte er diese Musik, lebte er in seinem ganz eigenen Universum, in dem er mit seinen Freunden tanzte und glücklich war.
Er bewunderte diese Frau. Nein, es war nicht nur die Musik und ihr Aussehen, obwohl sie eine wahre Schönheit war. Aber sie war auch so meinungsstark, kämpfte für die Schwachen, für die Minderheiten und für all jene, die keine Lobby hatten. Stellt sie Euch vor wie eine Mischung aus Lady Gaga, Taylor Swift und Billie Eilish: Manchmal eine schillernde, wunderschöne Diva, vor allem aber war sie liebenswert, bodenständig und laut, wann immer es galt, für etwas einzustehen.

Die Begegnung
Heute war ein besonderer Tag! Er sollte SIE sehen, denn sie spielte ein Konzert in seiner Stadt. Er war schon viel zu früh an der Halle und beschloss, sich noch ein wenig die Zeit zu vertreiben. Vielleicht noch schnell etwas trinken in dem netten Café in der Nähe. Es war vermutlich der irrste Zufall aller sich jemals ereigneten Zufälle: Als er den Laden gerade wieder verließ, sah er, wie eine schwarze Limousine angebraust kommt. Sie hält an und entlässt zwei Menschen in die angenehme Frühlingsluft: Einen Kleiderschrank-großen Mann im dunklen Anzug, mit Knopf im Ohr und Sonnenbrille im Gesicht – und SIE!
Konnte das wirklich sein? Lief ihm seine absolute Lieblingssängerin gerade direkt vor die Füße? Er hielt sich nicht für einen mutigen Mann, aber gerade tat er vielleicht das Mutigste, was er jemals getan hat: Er sprach sie an! Mit einem zaghaften „Entschuldigung“ wandte er sich an sie und ärgerte sich selbst über die Unsicherheit in der Stimme.
Jetzt sah sie ihn an und blieb stehen. Er dachte: „Wow, jetzt weiß sie, dass ich existiere, dass es mich wirklich gibt!“ Wie bei einer Nahtoderfahrung sah er diese Begegnung vor seinem inneren Auge von oben. Diese Frau könnte überall auf der ganzen Welt sein, aber sie stand hier – keinen Meter entfernt. Der Kleiderschrank baute sich bedrohlich vor ihm auf, aber ihr erstaunlich warmes „Ja, was gibt’s denn?“ in Kombination mit einem leichten Lächeln sorgte dafür, dass der Bodyguard ein paar Gänge runterschaltete.
Das Selfie
Noch während Ben überlegte, was er überhaupt sagen wollte, hörte er sich bereits reden. Er schwärmte von ihrer Musik, dann lobte er sie dafür, dass sie sich so stark für die Schwachen einsetzt und mit ihrem Geld so viel Gutes tut. Er weiß nicht wieso, aber zwischendurch schwärmte er auch vom Apfelkuchen seiner Mutter. Weiß der Henker, was das sollte. Aber sie redete auch. Und nicht nur das: Sie bedankte sich zunächst höflich, erzählte selbst ein wenig von sich, lachte über seine Sprüche und pflichtete ihm bei, dass der Kuchen seiner Mama bestimmt besser schmeckt als der in dem Café, vor dem sie standen.
Vermutlich ging die ganze Szene keine fünf Minuten, angefühlt hat sie sich sogar wie nur fünf Sekunden. Sie sagte, dass sie nun langsam weiter müsste – schließlich muss sie gleich zur Halle. Noch einmal nahm er seinen Mut zusammen: „Ob … ob wir wohl ein gemeinsames Foto machen könnten?“ Da war sie wieder, seine Unsicherheit. „Haha, aber klar“, lächelte sie fröhlich und ergänzte zwinkernd: „Hauptsache, deine Freundin wird nicht eifersüchtig!“ Der Bodyguard knipste mit Bens Handy zwei, drei wirklich schöne Schnappschüsse und während Ben sich die Bilder bereits anschaute, sagte er ihr kleinlaut, dass er keine Freundin habe.

Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, und wünschten sich gegenseitig ein tolles Konzert. Im Weggehen murmelte er leise, mehr zu sich als zu ihr: „Eigentlich hab ich generell nicht wirklich viele Freunde.“
Plötzlich hörte er ihre Stimme, als er schon zehn Meter von ihr weg war: „Hey, Ben!“ rief sie ihm laut und deutlich zu und ergänzte rasch: „Vergiss nicht, dass WIR Freunde sind!“ Sie zwinkerte erneut, dann verschwand sie mit dem Kleiderschrank in dem Café.
Viraler Sommer
Das Konzert war der Hammer, aber nicht nur wegen IHR. Noch vor dem Beginn sprachen Ben andere Fans an. „Sag mal, bist du nicht dieser eine Freund von IHR?“ Er wusste nicht, was sie meinten. Ein kurzhaariges, sehr freundlich wirkendes Mädchen hielt ihm ihr Handy unter die Nase. „Das bist doch du, oder?“ Er hatte mitbekommen, dass während seines Gesprächs mit ihr auch andere Leute auf sie aufmerksam wurden. Aber dass sie ihn gefilmt hatten, war ihm nicht klar gewesen. So sah er sich jetzt also selbst dabei zu, wie sie ihm zurief: „Hey Ben – vergiss nicht, dass wir Freunde sind!“
Die ganze Welt kann jetzt sehen, dass sie Freunde sind. Das ändert seinen ganzen Abend. Er wird noch mehrfach erkannt. Er ist eine ehrliche Haut und erzählt einigen Leuten, mit denen er das Konzert jetzt zusammen erlebt, dass es eigentlich nur eine zufällige Begegnung war, sie aber herzzerreißend liebenswürdig war zu ihm. Diese Menschen und er freunden sich an, sodass nicht nur eine schöne Erinnerung an diesen Tag bleibt, sondern auch Menschen, mit denen er über Gott und die Welt und natürlich über SIE reden kann. Auf der Arbeit begegnet er plötzlich auch einigen Schulterklopfern und er merkt über die nächste Zeit, dass eine einzige Begegnung sein Leben spürbar besser gemacht hat. Er wird zuversichtlicher, und auch selbstbewusster.
Drei Fotos erinnerten ihn zudem immer wieder an diesen großartigen Tag. Das Schönste davon postete er bei Instagram und kassierte tatsächlich einige Likes. Er hatte SIE verlinkt, aber leider reagierte sie nicht drauf. Das machte ihm aber nichts – vermutlich wird sie jeden Tag tausendmal verlinkt. Der wundervollen Erinnerung tat das keinen Abbruch.

Der Schatten der KI
Wir machen einen kleinen Zeitsprung ins Heute. Die Welt im Jahr 2025 ist kälter geworden, gespaltener. KI-Bilder fluten das Netz. Papst in Daunenjacke, verhafteter Trump, Shrimps-Jesus. Ben zeigte das Foto kaum noch. Einmal tat er es doch, bei einem Date. Die Frau wischte über das Display, zoomte rein. „Hm. Die Schatten am Hals stimmen nicht. Und guck mal die Finger vom Bodyguard. Kein besonders guter KI-Fake!“ Ben versuchte gar nicht erst, sich zu verteidigen.
Er merkte, wie sich der Wind drehte. Die KI-Bilderflut sorgte dafür, dass niemand mehr irgendwas glaubte. Vor allem glaubten sie ihm nicht. Unter dem Bild machten sich Leute lustig, beschimpften ihn teilweise sogar. Auf der Arbeit nannte man ihn plötzlich Photoshop-Philipp“. Ohne, dass er es merkte, wurde er wieder stiller und schüchterner. Immerhin hatte er aber noch seine neuen Freunde und die Gewissheit, dass das alles echt war. Aber das, was sich online über ihn ergoss, belastete ihn sehr.
Heiligabend, Kartoffelsalat und SIE
Dann kam Heiligabend. Ben saß alleine in seiner Bude. Vor ihm ein Berg Kartoffelsalat, in einer Hand das Handy. Er hatte wieder einen gemeinen Kommentar bekommen: „Lösch dich, du Opfer!“ Er war traurig, aber hauptsächlich war er müde. Wieso sind Menschen so, fragte er sich. Ob er den Beitrag bei Instagram einfach löschen sollte? Da, schon wieder ein Kommentar. Er rechnete mit noch mehr Hass, aber dann wurden seine Augen groß und größer. Konnte das sein? Hat SIE tatsächlich … Ja, das musste sie wirklich sein, es war ihr offizieller Account, verifiziert mit blauem Haken.
Mit zittrigen Händen las er, was sie geschrieben hat: „Hey, ich wische gerade so durchs Handy und bin über unser Bild gestolpert. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Irgendwie haben alle genervt, jeder wollte was – und dann kamst Du und warst echt einfach nur so herrlich normal und brachtest mich zum Lachen. Frohe Weihnachten, Ben und hey – vergiss nicht, dass wir Freunde sind!😉“
Ben starrte lange auf das Display, und er starrte immer noch, als ein neuer Hass-Kommentar aufploppte: „Haha, jetzt hat er sich ihren Kommentar auch noch gefaket!“. Aber Ben lachte nur. Er legte das Handy weg, schaufelte sich einen Bissen Kartoffelsalat rein und grinste. Ja, sie würden ihn online weiter malträtieren. Aber jetzt war er sich sicher, dass sie ihm nichts anhaben können.

Willkommen in der Realität
Ben ist natürlich nur eine erfundene Figur. Aber das Misstrauen, das ihm entgegenschlägt, ist real. Es begegnet Menschen jeden Tag im Netz – oft leise, manchmal brutal. Bilder, die früher Erinnerungen waren, sind heute vor allem eines: verdächtig. Nicht, weil sie falsch sind, sondern weil sie falsch sein könnten.
Was ist wirklich wahr im Internet? Die Wahrheit? Oder die Lüge, verziert mit einem blauen Haken?
Da draußen gibt es unzählige Menschen wie Ben, die sich ehrlich über ein Foto mit ihrem Idol freuen. Oder über ein Bild mit ihrem Schwarm, oder einen Schnappschuss an einem besonderen Ort. Und es gibt andere, die mit Bildern leben müssen, die ihnen schaden: ungünstige Schnappschüsse, Bloßstellungen, Häme. Oder mit KI erzeugte Fakes – falsche Nacktfotos, erfundene Affären, kompromittierende Situationen, die nie wirklich so stattgefunden haben.
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KI-Bildgeneratoren wie Gemini können kreativ sein, spielerisch, inspirierend. Und unabhängig davon: Diesen Geist bekommen wir nicht mehr zurück in die Pulle. Diese Technologie ist da – und sie wird täglich besser! Das eigentliche Problem ist deshalb weniger die KI an sich. Es ist der Umgang mit ihr. Eine Bilderflut trifft auf Plattformen und Algorithmen, die Spott und Hass belohnen und unsere Zweifel verstärken. Langsam dämmert uns: Medienkompetenz ist die Pflicht, nicht die Kür!
Aber im Grunde, davon bin ich überzeugt, geht es um mehr als Technik. Es geht darum, wie wir einander begegnen – online wie offline. Nicht jeder Mensch muss ständig etwas beweisen, nicht jedes Bild eine Leistung sein.
Vielleicht ist Weihnachten der richtige Zeitpunkt, um kurz innezuhalten, denn 2026 wird brutal. Da müssen wir uns dringend alle Medienkompetenz draufschaffen – und gleichzeitig Empathie und Menschlichkeit wiederentdecken. Davon ausgehend, dass KI irgendwann mal klüger ist als wir Menschen, könnte es ja auch generell ein pfiffiger Schachzug sein, wenn wir uns als Gesellschaft angewöhnen, netter miteinander umzugehen.
Denn im Grunde ist es wirklich so einfach. Wir müssen lediglich eine Regel befolgen: Sei kein Arschloch!
Frohes Fest, Ihr Lieben!